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Titel
Arm sein in Luzern. Untersuchungen und Quellen zum Luzerner Armen- und Fürsorgewesen 1590–1593


Autor(en)
Jäggi, Stefan
Reihe
(= Luzerner Historische Veröffentlichungen 43
Erschienen
Basel 2012: Schwabe Verlag
Anzahl Seiten
187 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Alois Steiner

In der Alten Eidgenossenschaft häuften sich seit den 1520er Jahren die Klagen über die herumziehenden Bettlermassen, und das Thema wurde zu einem Dauerbrenner an den Tagsatzungen. 1533 beschloss die Tagsatzung, dass die Obrigkeit ihren Bedürftigen Ausweise verteilen sollte, um sie vor den fremden Bettlern unterscheiden zu können. Die Fremden und die Zigeuner waren des Landes zu verweisen. Die Massnahmen nützten jedoch nichts. Im Gegenteil, das Überhandnehmen der Bettler wurde beklagt. Bei der ländlichen Bevölkerung entstand ein Gefühl der Unsicherheit. Einerseits traute man dem fahrenden Volk bis zu Mord und Brandstiftung alles zu, andererseits schreckten die Landstreicher vor handfesten Drohungen nicht zurück, um zu ihren zu kommen.

Um die Mitte des 16. Jahrhunderts versuchte man das Heimatprinzip zu forcieren, dass nämlich jede Gemeinde oder Pfarrei ihre Armen selbst unterhalten sollte. Eines der Hauptprobleme, das der heimatlosen Armen, wurde dadurch nicht gelöst. Die Landvögte vor allem der Gemeinen Herrschaften erhielten Befehl, die Zugänge zu ihren Territorien zu kontrollieren. Es tauchte sogar der Gedanke auf, die Müssiggänger gesamthaft auf die Galeeren zu schicken. Gegen Ende des 16. Jahrhunderts veranstalteten die Behörden regelrechte «Betteljagden» oder «Landrumi», was auch nicht viel nützte.

In Luzern versuchte der Rat, die Beschlüsse der Tagsatzung umzusetzen und der Bevölkerung zur Kenntnis zu bringen. Flächendeckende Betteljagden wurden organisiert. In der Stadt stellte man vereidigte Torwächter an die Stadttore. Durchziehende Bettler durften im Spital nur während einer Nacht beherbergt werden. Auf dem Land wurde ausdrücklich toleriert, dass an ertappten Dieben und Einbrechern Selbstjustiz geübt wurde. Stifte und Klöster teilten seit altersher regelmässig aus, was eine starke Sogwirkung ausübte. Die Spend in Beromünster wurde regelmässig von gegen 80 Personen besucht, an die Spend im Kloster St. Urban, die dreimal die Woche ausgegeben wurde, kamen gegen 400 Personen, von denen keine fünfzig aus dem Luzernbiet stammten. Emmen beschwerte sich über den grossen Zulauf zum Kloster Rathausen. Die Obrigkeit konnte nur vorschlagen, die Fremden ohne abzuweisen. Die geistlichen Institutionen wollten aber eine seit Jahrhunderten geübte wohltätige und heilbringende Gewohnheit nicht aufgeben.

Seit etwa Mitte des 16. Jahrhunderts wurde die obrigkeitliche Herrschaft verstärkt und zentralisiert. Auch das Fürsorgewesen erfuhr eine grundlegende Neuorganisation. Renward Cysat (1545–1614) amtete seit 1575 als Stadtschreiber in Luzern. Er war verantwortlich für die Reorganisation und Verdichtung der staatlichen Verwaltung im späten 16. Jahrhundert. Dank seiner vielseitigen Bildung, seiner Sprachkenntnisse und seinen weitgespannten Beziehungen wurde er eine der führenden Persönlichkeiten Luzerns und der katholischen Eidgenossenschaft. Er nahm sich auch der Reorganisation des bis dahin verzettelten und unsystematisch betriebenen Fürsorgewesens an. Innert kürzester Zeit legte Cysat mehrere Entwürfe für eine umfassende Almosenordnung vor. Die dritte Fassung fand am 26. Januar 1590 die Zustimmung des Rates. Zuerst wurde eine Almosenkommission eingesetzt. Sie sollte die Armen erfassen und registrieren. Deswegen wurde die Stadt in vier Quartiere aufgeteilt. Zudem stellte die Stadt ein Startkapital von 2000 Gulden zur Verfügung. Almosenbüchsen in der Kirche, Wirtschaften und Trinkstuben wurden aufgestellt. Der Gassenbettel wurde verboten und die Rolle des Spitals neu definiert. Zur Betreuung armer Mädchen und bettlägeriger weiblicher Kranken wurden die Bruchschwestern eingesetzt.

Luzern zählte um 1590 ca. 4000 Einwohner. Davon waren etwa 600 Personen zu unterstützen, das sind 15%. Dazu kam eine nicht quantifizierbare Dunkelziffer von «verschämten Armen», die nicht vor die Kommission treten wollten und deren Erfassung in der Stadt schwierig war. Unter den Armen zählte man vor allem Frauen, darunter sehr viele Witwen. 90% waren Frauen, nur 10% Männer. Witwenschaft war das grösste Armutsrisiko, daneben ledige Frauen, die aus gesundheitlichen Gründen arbeitsunfähig waren. Bei verheirateten Frauen waren die Männer häufig im Solddienst abwesend. Bedürftige Kinder wurden fremdplatziert, um sie eine Lehre machen zu lassen. Die regelmässige Unterstützung erfolgte in Form von Barauszahlung oder in Form von Naturalien. Daneben vergab die Stadt verschiedene leichte Arbeitsstellen, z.B. die Anstellung als Torwächter. Zwei Drittel der Unterstützten stammten aus dem Luzernbiet.

Einen beträchtlichen Einfluss auf das Fürsorgewesen hatte der Solddienst. 1590–93 befanden sich mehr als 20 Männer im Kriegsdienst, meistens in Frankreich. Fast zwanzig wurden als im Kriegsdienst umgekommen bezeichnet. Der Solddienst wurde im 16. Jahrhundert zu einem wichtigen Wirtschaftszweig. Cysat hat das Reislaufen nicht als problematisch betrachtet, sondern lediglich verlangt, dass die Reisläufer ihre finanziellen Angelegenheiten vor ihrem Wegzug ordnen und regelmässig einen Anteil ihres Soldes an die Familien schicken sollten. Dem Aspekt der Gesundheit widmete sich die Armenkommission speziell: Kranke und Verunfallte wurden sofort unterstützt. Auch aufwändige Therapien wurden angeordnet, so der Besuch von Heilbädern in Baden oder Pfäfers.

Die Almosenordnung von 1590 galt nicht nur in der Stadt, sondern auch auf der Landschaft. Dabei wurden die Pfarrer, Kirchmeier und die Geschworenen eingespannt. Es wurde ein genaues Verzeichnis der Armen aufgenommen. Ein monatliches Rapportwesen der Pfarrer an die Dekane wurde eingeführt. Diese rapportierten ihrerseits an den Leutpriester in Luzern. Allerdings gab es bald Unzulänglichkeiten bei der Umsetzung. Widerstand formierte sich in den Gemeinden. Die Stadt beklagte sich, die Landschaft schicke ihr ständig Bettler zu, so dass die Stadt auf die Einhaltung des Heimatprinzips pochte.

1613, also fast 25 Jahre nach der Einführung der neuen Almosenordnung, herrschten immer noch die gleichen Missstände. Grundsätzlich hat sich das bis zum Ende des 18. Jahrhunderts nicht verändert. Erst damals wurden in den meisten Gemeinden die Armuts- und Waisensteuer eingeführt. Der Anteil der Armen wuchs im 18. Jahrhundert infolge des Bevölkerungswachstums auf 20% der Gesamtbevölkerung an. Als unlösbar erwies sich das Problem der fremden Bettler und Landstreicher. Das Ancien Régime hat es nicht geschafft, das Armen- und Bettlerproblem grundsätzlich anzugehen und zu lösen.

Zitierweise:
Alois Steiner: Rezension zu: Stefan Jäggi, Arm sein in Luzern. Untersuchungen und Quellen zum Luzerner Armen- und Fürsorgewesen 1590–1593, Basel, Schwabe 2012. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Religions- und Kulturgeschichte, Vol. 106, 2012, S. 686-687.

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